Einstieg und Versuch einer Erklärung
Zeitrisse?
Was für ein bekloppter Name für einen Podcast, Zeitrisse gibt es gar nicht, du kannst keinen abstrakten Begriff wie die Zeit zerreissen wirft mir der Realist entgegen, weil Zeit ist physisch nicht fassbar, vergiss es… und schon ist er weg und kriegt meine Erklärung für Zeit-Realisten gar nicht mit.
Nun, seit bald 20 Jahren geistert hier ein Buch durchs Haus, ein Erbstück, uralt, sicher zwei- bis dreihundertjährig oder älter, eine Bibel offenbar, aber in dermassen schlechtem Zustand, dass man sich aus Angst gar nicht getraut die Seiten umzublättern weil die ganze Geschichte auseinanderfallen könnte. Tja, zugegeben, da schäme ich fast für den mütterlichen Teil meiner Familie die den Schunken hinterlassen hat, denn andere Familienbibeln auf die ich in Brockis und Antiquariaten auf der Suche nach historischen Schriften stosse, sind meist in exzellentem Zustand was bei mir die Frage aufwirft, ob das Buch der Bücher von den ehemaligen Besitzern überhaupt einmal aufgeschlagen worden war in grauer Vorzeit. Wer weiss, mein gehortetes Exemplar ist zwar in schrecklichem Zustand, aber es hat trotzdem diverse Umbauten des Hauses schadlos überstanden, was einigen anderen Haushalts-Gegenständen nicht gelungen ist. Das Buch zog infolge Renovationen vom einen Bücherregal auf den Dachboden, von dort (wegen einem weiteren Umbau) in einer Bücherkiste verpackt in den Keller und wieder, wie könnte es anders sein, wegen einer weiteren Renovationsetappe wieder zurück in die wieder zurück in den Wohnbereich wo es seinen Platz neben einer mit dem Schriftzug «California Surfing» beschrifteten Vintage-Style-Kiste mit CD’s auf einem kleinen schwarzen Bücherbord fand.
Das im derzeitigen Zustand aufgeschlagene Buch ist wirklich nicht so gut erhalten (zuklappen getraut sich niemand da Seiten und Buchrücken Schaden nehmen könnten), als ich es kürzlich umdrappierte (wegen der Kiste mit den Compact Discs), fiel mir auf, dass die ersten in der Mitte durchgerissenen Seiten mit der Laudatio auf irgendwelche wichtigen Herren zu St. Gallen, aufstanden und den Blick auf die dahinterliegende Buchseite freigaben, witzigerweise sticht einem da in der oberen Hälfte weil leicht freistehend, gleich das Wort «Zeit» in die Augen, Risse also in Kombination mit Zeit, Rissezeit, oder andersherum eben Zeitrisse, lieber Herr Realist, schauen sie sich das doch bitte mal genauer an, es gibt ihn also doch, den Zeitriss, im Plural da dieser Podcast ja eine Serie werden soll, Zeitrisse. Oder auf weitere Art und Weise erklärt: Druckerschwärze, das Zeit-Wort, Seiten mit Riss gleich Zeitrisse!
Ach ja, Musikinteressierte werden sich fragen was für Musik denn in der Kiste abgelegt ist. Wegen Platzmangel in der Soundwall und wegen der grad passenden Grösse der Kiste, habe ich da meine Sixties-Surf- und Instro-Sammlung ausgelagert, darunter sicher etwa 50 Silberlinge der umwerfenden The Ventures (hört euch mal Live in Japan von 1965 an, das war vermutlich die eigentliche Geburtsstunde des Heavy Metals), nicht minder erhebend die Aufnahmen von Sandy Nelson, Jerry Cole, Billy Strange, Challengers, Fabulous Wailers, Duane Eddy und so weiter. Die Beach Boys hingegen stecken in der Wall im B-Bereich, unmittelbar hinter einer Scheibe des Westcoast-Duos Batdorf & Rodney. Tja, das Sammeln von Tonträgern hat halt so seine Tücken.
Soweit also die Zeitrisse-Erklärung für Realisten, Zuhörer die sich in den Literatur-Spalten Fantasy, Science Fiction oder im Steampunk mit seinen vielen Querschlägern auskennen, sind Risse in der Zeit, Zeitreisen, Zeitspalten, Zeitbeben und dergleichen nichts wirklich aussergewöhnliches, sie sind viel mehr ein grundlegendes Element der Handlung in einschlägigen Stories, Perry Rhodan und Dr. Who lassen freundlich grüssen.
Das Erfinden alternativer und fiktiver Welten ist defintiv nichts neues, der Mensch denkt sich zu seiner Unterhaltung gerne Geschichten aus und gibt sie weiter, früher in erzählerischer Form in einer Höhle während sich der Mammutschinken am Spiess gemütlich über dem Lagerfeuer drehte, später dank Gutenberg in gedruckten Büchern, heutzutage mittels digitaler Formate und elektronischer Verbreitung. Jules Verne gilt noch immer als Begründer vieler Sparten der fantastischen Literatur, ich persönlich verliebte mich irgendwann in Ray Bradbury und seine lyrischen Ausflüge in Vergangenheit und Zukunft, ich entdeckte die Bücher des britischen Autors Michael Moorcock der mit der Figur Jerry Cornelius auch populäre Kulturaspekte mit einbezog und ich liess mich vom Amerikaner Philipp K. Dick entführen in Realitäten die sich regelmässig als irreale Realitäten erweisen sollten, bei Dick bleibt normalerweise kein Zeitbaustein auf dem anderen, er ist absolut zeitlos und immer noch recht spannend zu lesen.
Das Genre Steampunk steht oft auf viktorianischen Füssen, respektive auf den gusseisernen Sockeln der Industrialisierung in der plötzlich alles möglich zu sein schien, eine Epoche die eigentlich erst durch die Dampfkraft möglich wurde. Steampunk setzt normalerweise eine andere Entwicklung unserer Geschichte voraus, statt Benzinmotoren blieben dampfb-etriebene Aggregate in Mode, statt dem Flugzeug setzt sich das Luftschiff durch. Wann dieser Riss durch die Zeitgeschichte ging ist nicht ganz klar, die meisten Gelehrten tippen auf die Mitte des 19. Jahrhunderts, so um 1860 herum als sich die Welt durch technologische Errungenschaften und Erfindungen immer schneller zu drehen begann. Nebenbei: Die Umweltemissionen werden im Steampunk gerne ausgeblendet, in London um 1985 herum erhielt ich einen Eindruck davon wie sich eine russgeschwärzte City anfühlt, kurz darauf wurde der Katalysator für Automobile eingeführt.
Aus der Steampunkwarte betrachtet könnte die Gegenwart also in etwa so aussehen: Stell dir den Flughafen Kloten oder irgendeinen anderen Airport vor, wenn sich anstelle des Flugzeugs im 20. Jahrhundert die Luftschifferei durchgesetzt hätte, statt Kerosin als Treibstoff würden vielleicht noch immer Dampf oder das Traggas Helium die Welt in Bewegung halten (okay, Gas ist derzeit ein ziemliches Reizwort), gigantische, von gemütlich schnurrenden Motoren und surrenden Propellern gezogene Zigarren und Ballons würden den Himmel über Oerlikon und Wallisellen verdunkeln, ihre beim Landeanflug auf die Oberfläche des Katzensees geworfenen Schatten wären so gross wie Cricketfelder, mindestens. Statt Kommitees gegen Fluglärm, gäbe es welche die sich für das Wohlergehen weidender Kühe im betroffenen Umfeld des Hubs einsetzen würden. Die Tiere sind wegen der startenden und landenden Luftgefährte dermassen gestresst, dass sie sich weigern ihre Milch abzugeben wenn sie nicht sogar schon aus ihren eingezäunten Weiden ausgebrochen sind.
Zeitrisse lauern eigentlich überall. Elektrizität zur Bewegung von Fahrzeugen gab es schon vor 1900, im Individualverkehr ging das aber flächendeckend vergessen (ausser vielleicht bei den englischen elektrifizierten Milk-Float-Lieferwagen), stattdessen gewannen Diesel- und Benzin-Kutschen das Rennen… über 100 Jahre lang… im Nachhinein wohl doch nur mittelfristig. An die Ablösung des Benzinmotors durch elektrisch angetriebene Aggregate haben wir uns in kürzester Zeit gewöhnt, selbst wenn das noch vor wenigen Jahren undenkbar war. Es entsteht also irgendwie ein Bruch im Denken, auch wenn wir uns dessen nicht wirklich bewusst sind, es ist kein langsamer, Jahrzehnte währender Wechsel, nein, es ist ein schneller (unerwarteter) Riss in der Geschichtsschreibung und einmal mehr steigen wir kollektiv und mutig wie immer als Passagiere an Bord der Geschichte und tun so, als wäre es die logischste Sache der Welt.
Die Verbindungen und Parallelen zur Ver-gangenheit sind oft verblüffend, in alten, in Frakturschrift gedruckten Jahrbüchern finden sich immer wieder unglaubliche Geschichten die uns wegen der sprach-lichen Formulierung vielleicht fremd er-scheinen, thematisch unterscheiden sie sich aber nicht gross von Artikeln in aktuellen Informationsportalen. In alten Aufsätzen und Schriften findet man fas-zinierende Botschaften zu allen möglichen Themen, zu bahnbrechenden Erfindun-gen, zum Sozialwesen, zur Gesellschaft und dem viktorianischen Zeitbild schlecht-hin das in den Köpfen verankert war, da lässt sich vieles herauslesen. Unwetter-katastrophen gab es übrigens auch schon anno Domini, sie sind definitiv keine Erfindung des 21. Jahrhunderts.
Diese Podcast-Sammlung soll Fantasie und Kreativität anregen und beim Zuhörer Gedankenschlösser entstehen lassen. Das abgesteckte Themenfeld der Zeitrisse reicht vom Gebiet des Steampunks, der Aufbereitung atemberaubender wiederaufgefundener historischer Texte die einen unweigerlich zum Schmunzeln bringen und weiteren, seltsamen literarischen Begebenheiten aus der Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht auch der Zukunft.
Zeitrisse… man stelle sich einmal vor, ein römischer Legionär im 4. Jahrhundert nach Christus blickte bei seiner Nachtwache im Kastell bei Irgenhausen plötzlich in die Scheinwerfer der von Wetzikon heranbrausenden S3-Zugkomposition die – verursacht durch einen Zeitriss - für ein paar Sekunden das römische Imperium gestreift hätte. Der Soldat wäre vermutlich, hätte er es jemandem erzählt, nach kurzer Konsultation der aktuellen römischen Götterliste, von seinen Vorgesetzten für verrückt erklärt und zurück nach Rom geschickt worden.
Nachtrag.
Gerade eben habe ich den Jahrgang des eingangs erwähnten Buches eruieren können, ich habe die römischen Ziffern M D C C L I entdeckt, das entspricht dem Jahr 1751.
Zeitrisse sind eine freie Zusammenarbeit des Steampunk-Künstlers, Erfinders und Tüftlers Raphaelius Alva Grusser und Tonquelle Hofer (inkl. meiner Alter Egos Mellow und Don Guelle) und erscheinen immer dann, wenn die involvierten Protagonisten von einer Welle der Kreativität erfasst werden.
Don Guelle, Juli 2022
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